“Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern wichtiger Bestandteil moderner Medizin”. Im Interview mit der FAZ gibt Bundesgesundheitminister Prof. Karl Lauterbach einen Ausblick auf Digitalisierungsvorhaben für das Gesundheitswesen.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Herr Lauterbach, auf der Kabinettsklausur in Meseberg wollen Sie an diesem Wochenende die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranbringen. Haben Sie denn schon selbst eine elektronische Patientenakte?
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: Nein. Erstens bin ich als Beamter privat versichert, die elektronische Patientenakte steht bei meiner Krankenversicherung gar nicht zur Verfügung. Und bisher kann man mit der Akte auch in der Praxis noch wenig anfangen, auch deshalb nutzen das derzeit weniger als ein Prozent der Patienten. Das wollen wir ändern. Ende kommenden Jahres wird die elektronische Patientenakte für alle verbindlich.
Was versprechen Sie sich davon?
Zunächst geht es um den Patienten. Mit der elektronischen Patientenakte wird er endlich Herr seiner Daten – er bekommt eine geordnete Übersicht über Arztbriefe, Befunde, Medikamente. Und dann hilft die Akte auch bei seiner Behandlung. Sein Arzt kann schnell erkennen, welches Medikament er zusätzlich verordnen kann, ob es Wechselwirkungen gibt. Außerdem sieht er, ob ein Kollege schon vorher dasselbe untersucht hat. Nehmen wir ein Beispiel. Ich werde oft von Patienten nach einer zweiten Meinung gefragt und leite das an einen Spezialisten weiter. Zuletzt ging es um eine junge Frau mit beginnender Multipler Sklerose nicht im Gehirn, sondern im Rückenmark. Ein seltener Fall. Aber auch hier war es wieder so: In der Papierakte fehlten wichtige Befunde – von Untersuchungen, die bereits durchgeführt waren.
Die Idee zur Digitalisierung der Befunde hatten Sie vor mehr als zwanzig Jahren, mit der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Warum soll es auf einmal klappen?
Weil jetzt einfach etwas passieren muss. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern wichtiger Bestandteil moderner Medizin. Als Minister muss ich dafür sorgen, dass unser Gesundheitssystem endlich im 21. Jahrhundert ankommt. Dafür gehe ich die Frage von der pragmatischen Seite an. Das deutsche Problem mit der Digitalisierung ist: Wir machen viele Dinge zu kompliziert. Das will ich vermeiden. Deshalb soll die „elektronische Patientenakte für Alle“ Wirklichkeit werden.
Was heißt das?
Jeder, der nicht ausdrücklich widerspricht, ist automatisch dabei. Das ist das Opt-Out-Prinzip. Auch bei den Patienten, die sich selbst nicht mit der Einrichtung der elektronischen Akte beschäftigen möchten, steht sie zur Verfügung, sie kann und soll von den Ärzten zum Austausch von Informationen genutzt werden. Und wir warten nicht, bis es für alle Befunde eine standardisierte Datenstruktur gibt. Für den Anfang wird es möglich sein, ganz einfach pdf- oder Word-Dateien einzuspeisen. Bereits das ist schon ein riesiger Fortschritt. Und bei den Arzneimitteln wird es von Anfang an systematisierte Einträge geben, damit Ärzte und Apotheker einen schnellen Überblick haben – und auf das elektronische Rezept zugreifen können.
Schaffen Sie es, die nötige Infrastruktur so schnell zu installieren?
Die Infrastruktur für die elektronische Patientenakte gibt es ja bereits. Auch die Patientendaten liegen schon in elektronischer Form vor – in der IT beim Arzt. Neu ist der erleichterte Zugang. Das muss für Ärzte, Krankenhäuser oder Patienten total unbürokratisch sein. Das heißt: Künftig wird jeder meiner behandelnden Ärzte Zugang zu meiner Akte bekommen, solange ich nicht widerspreche. Er erhält dort den Überblick über meine Patientenhistorie erhalten und stellt selbst relevante Daten und Dokumente ein. Als Patient wiederum habe ich auch die Möglichkeit, mir einen Zugang zu meiner Akte per Smartphone einzurichten, muss es aber nicht zwingend tun.
Der Datenschutzbeauftragte Ulrich Kelber hat schon Bedenken geäußert.
Wir sind in regelmäßigem Austausch. Herr Kelber weiß, dass wir Patientendaten schützen, aber gleichzeitig die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen wollen. Aber das geht nicht über Systeme, in denen der Zugang zur elektronischen Patientenakte so kompliziert ist, dass er nie begangen wird. Was wäre denn dann die Konsequenz? Dann verschicken Ärzte und Patienten weiter Befunde per E-Mail, Fax oder Post. Das ist viel unsicherer. Ich möchte, dass jeder eine Patientenakte bekommt und jeder die Chance bekommt, sie auch zu nutzen, ohne vorher zum IT-Experten zu werden.
Sie wollen medizinische Informationen auch für die Forschung leichter zugänglich machen. Ist das nicht auch ein Datenschutzproblem?
Das geschieht nur in pseudonymisierter Form. Wir haben schon jetzt eine Menge Daten, die aber in getrennten Silos liegen und nicht miteinander verknüpft werden können: in den Krankenhäusern, bei den Krankenkassen, dem Krebsregister, in Genom-Datenbanken, künftig aus der digitalen Patientenakte. Der Grundgedanke ist, dass diese Daten in pseudonymisierter Form für Forschungszwecke kombiniert werden können. Das können wir bisher nicht machen, dadurch fallen wir im Vergleich zu anderen Ländern zurück. Das ist der Grund, warum Biontech für die Studien Deutschland verlassen hat. Wenn wir da nicht wirklich etwas bewegen, spielen wir in der pharmazeutischen Forschung bald keine Rolle mehr.
Bisher waren die Ärzte an Transparenz nicht sonderlich interessiert: In einer Stichprobe der Stiftung Warentest wollten nur 2 von 12 Ärzten ihren Patienten freiwillig Einblick in die analoge Patientenakte gewährt.
Das geht nicht. Die Gesetzeslage ist schon jetzt eindeutig: Die Befunde gehören dem Patienten. In Zukunft können sie in ihrer Patientenakte – über eine App oder am Computer – jederzeit mitlesen. Der Arzt kann nicht sagen: Es gibt zwar die elektronische Patientenakte, aber meine Befunde stelle ich da nicht rein.
Wie wollen Sie das kontrollieren?
Dokumentationspflichten gibt es heute schon. Aber die Patienten akzeptieren es nicht länger, dass sie keinen Zugang zu ihren Daten haben. Wenn sie jetzt mit der elektronischen Patientenakte ein sehr einfach zugängliches Instrument bekommen, werden sie sich nicht mehr damit abfinden, dass Ärzte dort nichts einstellen. Außerdem werden wir es auch den Ärzten sehr leicht machen, die Akte zu befüllen, indem wir das weitestgehend automatisieren. Aber es sind nur ganz wenige Ärzte, die damit ein Problem haben. Ein paar lautstarke Kritiker wird es immer geben. Wir arbeiten mit den vielen, die hoch qualifiziert sind, gutwillig sind, den Patienten helfen wollen – und die auch Teil eines Verbunds sein wollen.
Wenn ich wegen einer harmlosen Erkältung zum Arzt gehe: Muss ich ihm dann wirklich meine ganze Krankengeschichte offenlegen?
Das müssen Sie nicht. Sie können dem Arzt auch die Möglichkeit geben, dass er in die Patientenakte nur hineinschreibt, aber nicht sieht, was dort schon enthalten ist – auch wenn der behandelnde Kollege vielleicht ein Misstrauen spürt. Für die Akzeptanz ist das enorm wichtig.
Das deutsche Gesundheitssystem verlangt ungewöhnlich viel Eigeninitiative. An Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen wird nicht erinnert, Befunde werden nicht automatisch mitgeteilt. Ändert sich das jetzt?
Ja. Genau für solche Erinnerungen ist es sinnvoll, wenn sich auch Patienten einen eigenen Zugang zur elektronischen Patientenakte einrichten. Dann können Impf-Erinnerungen basierend auf der eigenen Impfhistorie erfolgen. Darüber hinaus werden wir einen Medical Messenger einführen. Der Arzt soll die Möglichkeit bekommen, über einen sicheren Weg mit dem Patienten per Textnachricht zu kommunizieren. Der Patient kann auch antworten und Fragen stellen. Das ist eine ganz neue, schnelle Art der Arzt-Patienten-Kommunikation.
In Deutschland darf ich bislang so viele Ärzte aufsuchen, wie ich will. Soll die elektronische Akte diesen Praxistourismus unterbinden?
Man wird in Deutschland immer die freie Arztwahl haben. Das Hopping von einem Arzt zum anderen hat ohnehin nicht mehr die Bedeutung wie früher. Schon weil es so schwer ist, Termine zu bekommen. Und dass unnötige Untersuchungen vermieden werden, ist doch auch für den Patienten von Vorteil!
Brauche ich als Patient die App meiner Krankenkasse, wenn ich die elektronische Akte nutzen will?
Sie brauchen die App nur, wenn Sie selbst Einblick nehmen möchten. Für die Akte selbst ist das nicht nötig, sie wird ohnehin angelegt. Die ältere Dame hat dieselben Vorteile wie der Digital Native. Sie geht zum Arzt, der Arzt stellt dann wichtige medizinische Befunde ein und aktualisiert die Liste der Medikamente, wenn er ein elektronisches Rezept ausstellt.
Ich habe versucht, die App meiner Krankenkasse zu installieren. Auf die Schnelle ist mir das nicht gelungen.
Das muss einfacher werden, ganz klar. Bislang muss sich jeder, der die elektronische Akte haben will, selbst freischalten. In Zukunft muss jeder, der auch selbst den Zugang haben will, nur einmal einen Identifikationsprozess durchlaufen – und diesen Zugang dann für die elektronische Patientenakte, das elektronische Rezept, sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen nutzen. Das macht das System schon mal viel übersichtlicher.
Auch das elektronische Rezept wird bislang kaum genutzt. Das wird dann ebenfalls verpflichtend?
So ist es. Wenn der Arzt ein Medikament verschreibt, erhält der Patient keinen rosa Zettel mehr. Sondern der Patient muss dann nur seine elektronische Patientenakte, seine E-Rezept-App oder seine Gesundheitskarte vorzeigen, und der Apotheker sieht sofort das elektronische Rezept. Auch hier gilt: Es muss so einfach wie möglich sein.
Mit einer breiten Bewegung gegen die Neuerungen rechnen Sie nicht?
Das glaube ich nicht. Denn das Entscheidende ist: Wir machen hier nicht nur Lösungen für Digital Natives, sondern wir konzipieren die Anwendungen so, dass sie der medizinischen Versorgung jedes Patienten dienen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist zudem der Digitalisierung gegenüber positiv eingestellt. Die allermeisten Leute wollen, dass wir uns nicht bloß gegenseitig bedauern, was alles nicht geht. Sondern dass mal wieder etwas funktioniert.
Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse